Lenzburger Freischaren-Manöver
Geschichte

Geschichte

Napoleon

1812 ist die Armee vom Napoleon nach dem Russlandfeldzug zusammengebrochen. Europa hat wieder zu einer neuen Ordnung finden müssen. Es hat viele Unruhen gegeben, nicht nur in der Schweiz mit dem Sonderbundskrieg. Bis sich dies wieder einigermassen beruhigt hat, ist es ein paar Jahrzehnte gegangen.

Preussen ist 1812 noch immer von den Franzosen besetzt gewesen. Um sich von dieser Besatzung endlich zu befreien, hat der König 1812 sog. „Freicorps“ gebildet. Die haben die Aufgabe gehabt, die Franzosen zu vertreiben und die Ordnung im Land wieder herzustellen. Eines von diesen Freicorps ist sehr berühmt geworden, weil es zwar ziemlich erfolglos, aber bei der Bevölkerung beliebt gewesen ist und bewundert wurde. Also die erste Parallele zu den Lenzburger Freischaren. Das ist das Litzow’sche Freicorps gewesen, „die schwarzen Jäger“.

Möglich geworden sind in Europa die Freicorps – also die Freischaren – weil die bisherige Standesordnung „Adel – Bürger – Bauern“ durch die französischen Revolution aufgebrochen worden ist. Und so haben auch Nichtadlige Führungsrollen können übernehmen. 

Auch in der Schweiz hat es verschiedene Freischareneinsätze gegeben. Zum Beispiel der „Freiämtersturm“ von 1830 oder die Freischaren-Züge nach Luzern 1844 und 1845.

Ab 1848 hat es gebrodelt im Grossherzogtum Baden. Auch dort hat sich die französische Revolution ausgewirkt. Es hat insgesamt drei Aufstände gegeben, mit dem Ziel, das Herzogtum in eine Republik umzuwandeln. Beim dritten Aufstand hat eine schillernde Figur mitgewirkt; eine Figur, die zu keinem Zeitpunkt gewusst hatte, dass sie hunderte Kilometer weiter südlich, nämlich in Lenzburg, den Anstoss geben wird zu einer neuen Tradition.

Ludwig Blenker

Ludwig Blenker ist 1812 in Worms geboren und 1863 in Amerika gestorben. In Amerika ist er als heldenhafter Brigadegeneral in die Geschichte eingegangen, weil er während dem amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Bundestruppen und gegen die Südstaatler grösste militärische Erfolge hat feiern können. Er ist in Amerika mit allen militärischen Ehren als Divisionskommandant aus dem Dienst entlassen worden. Das Bild vom Ludwig Blenker in der Zeit vom 3. Badischen Aufstand, also rund 14 Jahre vorher, hat dann aber ganz anders ausgesehen: Man würde heute wahrscheinlich sagen: ein Rüppel!

Er ist Hauptführer von den revolutionären Kräfte in Rheinhessen gewesen und war Kommandant der rheinhessische und pfälzische Freischaren.

Der Blenker hat sich über alle Weisungen seiner Vorgesetzten hinweggesetzt. Er hat immer seine Frau in einer entwendeten Kutsche mitgeführt und hat zusammen mit ihr und seiner Truppe überall geplündert. Als er mit seiner Truppe an die Schweizer Grenze gedrängt worden ist, hat er unter anderem ein Haus vom Lörracher Arztes Dr. Kaiser mit seiner Truppe annektiert. Den Arzt hat er zum Teufel gejagt und die Frau vom Arzt gezwungen, ihm 3‘000 Gulden zu bezahlen. Diese hat sie bei der Nachbarschaft zusammenbetteln müssen. Also wirklich ein „Unflat“!

Nachdem der Aufstand niedergeschlagen worden ist, wollte er sich mit seiner Truppe in die Schweiz retten. Das war nur mit Schweizer Einverständnis möglich. Mit seiner ganzen Überheblichkeit hat er mit dem Oberst Kurz auf der Schweizerseite über ein Grenzübertritt verhandelt.

Zahlen wollte er nichts, weil angeblich seine Kriegskasse verloren gegangen sei. Dummerweise (also für ihn) haben dann aber die Schweizer Truppen eine Kutsche „deutscher Bauart“ auf dem Weg nach Stein abgefangen. Aus der Kutsche hat man dem Blenker seine Kriegskasse mit 3’000 Gulden geborgen – das Geld von der Frau Doktor Kaiser.

Schliesslich haben sich beide Parteien am 8. Juli 1849 geeinigt. Noch in der gleichen Nach hat der Übertritt in Rheinfelden können stattfinden. Die Ross und Waffen sind nach Basel überführt worden, und die verbleibende Truppe ist in die Innerschweiz gebracht worden. Dazumal hat es eine Eidgenössische Verordnung gegeben, die vorgeschrieben hat, dass Flüchtlinge und fremde Truppen mindestens einen Abstand von 38 km von der Grenze müssen einhalten.

Deshalb sind die wilden Horden vom Blenker’schen Freicorps von Rheinfelden her durch Lenzburg und gegen die Innerschweiz gezogen und haben bei der Bevölkerung von Lenzburg einen riesigen Eindruck hinterlassen. Der Staatsarchivar des Kantons hat in einem Brief an Richard Müller in Lenzburg 1954 unter anderem geschrieben: „Die Freischaren besassen ein Musikcorp, das gräuliche Töne von sich gab. Die Männer trugen wilde Bärte und benahmen sich sehr undiszipliniert. Dem Corps gehörten Marketenderinnen an, die gleich gekleidet waren wie die Männer. Sie fuhren auf Planwagen mit, die zum Teil mit Raubgut (Wäsche, Kleider, Geschirr, Weinfässer) und allem möglichen Plunder beladen waren. In einer Kutsche befand sich die Kriegskasse, bewacht von zwei Freischärlern…“

Kadetten

Sicher sind auch ein paar Kadetten unter den Zuschauern gewesen und haben den ungewöhnlichen Menschenzug bestaunt. Das Kadettenwesen ist nämlich zu dieser Zeit sehr gut organisiert gewesen. Die ersten Kadettenkorps sind in der Schweiz bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden. Die Kadettenkorps haben den Buben von der oberen Schulstufen jede Woche einen mehrstündigen Unterricht geboten. Einer der Hauptinitianten bei der Gründung vom Lenzburger Kadettenkorps 1793 war der Lenzburger Unternehmer Gottlieb Hünerwadel. In den Jahren nach 1830 hat das Kadettenwesen einen Boom erlebt. Es ist die Zeit von den glänzenden Kadettenfesten gewesen, die im „Grünen Heinrich“ vom Gottfried Kellers geschildert worden sind und so in die Weltliteratur gefunden haben.

Freischarenmanöver

„Das Ganze bildete ein sehr unterhaltendes Schauspiel“

Nur drei Jahre nach dem Blenker‘schen Spektakel in Lenzburg hat das Lenzburger „Wochenblatt und Anzeiger“ über das Jugendfest 1852 berichtet. Und das hat so getönt:

„Ausserordentliche Hitze drückte Geist und Körper darnieder. Unsere munteren Kadetten bezogen gleich nach zwei Uhr einen Lagerplatz, wurden da inspiziert, und bestanden im Exerzieren und Manövrieren gut. Während sie einige Pelotonfeuer ausführten, fing es an im benachbarten Niederwald sich zu regen, und hervor brach, eine abenteuerliche Freischar, welche sich nach und nach dem Lagerplatz näherte und unter Hurrarufen und Gewehrsalven die Kadetten angriff. 

Diese aber brachen aus; Jägerkolonnen verteilten sich links und rechts; in der Mitte blieb eine Sturmkolonne zusammen und warf die kecken Angreifer bis auf die Höhe des Waldhügels zurück. Von da aber machten sie einen zweiten, verzweifelten Angriff, drängten die Kadetten auf die Seite und nahmen ihnen den Lagerplatz weg, wo sie Wache ausstellten und sich gütlich taten.

Erst jetzt hatte man Gelegenheit die Freischärler näher zu betrachten und sie boten ein lebhaftes Conterfey des Blenker’schen Frei- und Raubkorps dar, welches den Lenzburgern noch vom Jahre 1849 her, als es hier durchzog und bewirtet wurde, im Angedenken ist.

Bald aber fassten die Kadetten neuen Mut, den verlorenen Lagerplatz wieder zu erobern; sie verteilten sich in verschiedene Angriffskolonnen, nahmen auch eine Kanone zu Hülfe und drängten endlich unter heftigem Gewehrfeuer die Freischaren hinaus, die dann noch bei ihrer Retirade die Lagerhäuschen und Schanzkörbe angezündet hatten. (…) Das Ganze bildete ein sehr unterhaltendes Schauspiel und trug wesentlich zur Belebung des Ganzen und besonders zur Freude der Kadetten bei.“ 

Ist das wirklich so improvisiert abgelaufen, wie es dargestellt worden ist? Eher nicht, im Protokoll vom Stadtrat hat man nämlich können lesen, dass „den jungen Leuten, die am fest den Kadetten entgegenstehen werden, eine Flasche Wein und Brot per Mann auf Kosten der Gemeinde abgegeben werden soll“.

Folgende Manöver

Der grosse Unterhaltungswert des gelungenen ersten „Freischaren-Manövers“ ist schwer zu vergessen gewesen. Die Lenzburger haben denn auch am folgenden Jugendfest 1853 das Ausbleiben vom Manöver beklagt. Im Lenzburger Wochenblatt ist eine kleine Notiz zu lesen gewesen: „… der militärischen Nachmittagsfeier dagegen wäre ein und alle Mal mehr Abwechslung durch Manöver etc. zu wünschen.“

Trotzdem haben die Lenzburger noch weitere zwei Jahr müssen ausharren, bis dann 1856 das nächste Manöver stattgefunden hat. Spätestens ab 1861 ist das Manöver als Tradition verstanden worden, und zwischen 1886 und 1914 hat es nur 3 Jahre gegeben, wo das Manöver ausgefallen ist.

1924

Nach einem langen kriegsbedingten Unterbruch ist das Thema „Freischaren-Manöver“ wieder diskutiert worden. Man hat die Absicht gehabt, dem Jugendfest wieder etwas mehr Glanz zu verleihen. Weil dies das Budget von der Gemeinde betroffen hat, ist das Thema an der Einwohnergemeindeversammlung vom 12. Januar 1924 zur Sprache gekommen. Man hat hart diskutiert und schliesslich abgestimmt. Mit 261 Ja- gegen 220 Nein-Stimmen hat sich die Versammlung für die Abhaltung des Manövers ausgesprochen. Dass es so knapp wird, hat überrascht. Wahrscheinlich wegen der Sehnsucht nach Frieden; nach all den Kriegsjahre, nach der Wirtschaftskriese und nach dem Generalstreik von 1918 mit Truppeneinsatz.

1926

1926 hat wieder ein Manöver stattgefunden und zum ersten Mal in der Geschichte der Freischaren ist der Kriegsruf ertönt, wo man sich heute nicht mehr kann wegdenken. Aber wie ist dieser Honolulu-Ruf überhaupt zustandegekommen?

Manöverruf Honolulu

Der Ex-Feldschreiber Heiner Halder (HH.) ist in einer Salzkornkolumne im Lenzburger Bezirks-Anzeiger im Juli 2014 der Frage nachgegangen:

„`Honolulu!` – wer hats erfunden? Die erste urkundliche Erwähnung des Freischaren-Schlachtrufs stammt aus einem Protokoll des Freischaren-Comitées, in welchem Boris Schwarz am 3. September 1928 im Rückblick auf das Manöver festhält: `Ein Kriegsruf (Honolulu) hat sich als vorteilhafter Faktor des Corpsgeistes erwiesen.` Als Erfinder gilt Gustav Ferdinand Zeiler. Der Sohn des Hero-Gründers besuchte 1911/12 zwecks Studium der Ananas-Plantagen Hawaii und die Hauptstadt Honolulu. Nebst Conserven-Know-how wird er wohl den wohlklingenden Ruf heimgebracht haben.“

1928

Das Jugendfest von 1928 hat wie heuer an einem Freitag, 13. Juli, sattgefunden. Zur Vorbereitung vom Freischaren-Manöver haben sich verschiedene Vertreter im Freischaren-Hauptquartier, nämlich im Café Central, Am 4. Juni 1928 getroffen. 

Boris Schwarz ist zum General gewählt worden. Daneben sind noch weitere Generäle bestimmt worden: einen Infanterie-General, Adolf Graf, ein Artillerie-General, Hans Brunner, und ein Kavallerie-General, Alfred Disch, wo 1948 noch zum Freischaren-General aufgestiegen ist. Die Versammlung hat mit 100 Freischaren gerechnet. 50 – 60 bei der Infanterie, 25 bei der Kavallerie, 15 bei der Artillerie und 10 bei einer Spezialgruppe. Die Herren Jean Eich und Hans Brunner sind beauftragt worden, mit dem Zeughaus Aarau über zwei 8,4-cm-Feldgeschütze zu verhandeln. Die Sammlung hat Fr. 515.— gebracht. Die Firma Max Fischer, Baugeschäft, der Karl Furter, Malermeister, und Firma Langenbach haben die Burg erstellt. Der Direktor Aebi hat 20 kg Schwarzpulver à Fr. 2.80 gestiftet und der Herr Borsinger, Wirt zur Krone, das Bier im Bagagewagen gespendet. Der Boris Schwarz hat dann aber noch angemerkt:«Der Freitrunk von 2 Liter Bier pro Mann dürfte eventuell reduziert werden und durch eine finanzielle Unterstützung seitens der Behörde zu ergänzen sein.»

Effektiv mitgemacht haben schliesslich 146 Freischaren gegen ca. 120 Kadetten. Zum Vergleich: Für das Manöver 2018 haben sich rund 670 Freischaren und 280 Kadetten angemeldet.

Bis und mit 1972 hat das Manöver in regelmässigen Abständen stattgefunden. Nach der Pausierung während dem 2. Weltkrieg ist ab 1948 jedes zweite Jugendfest von Freischaren begleitet gewesen.

Ab 1972 freiwillige Kadetten

Immer wieder ist versucht worden, den Kadettenunterricht an der Schule zu reformieren und mit anderen Aktivitäten zu verbinden.

Am 3. Dezember 1972 haben die Stimmberechtigten des Kantons Aargau eine Änderung vom Schulgesetz gutgeheissen. Viele haben nicht bemerkt, dass mit dem neuen Schulgesetz automatisch die Abschaffung vom Kadettenunterricht verbunden gewesen ist. Das hat aber auch geheissen, dass den Freischaren ihren Gegner abhandengekommen ist. Und ein Freischaren-Manöver ohne Gegner ist wie ein Fussballspiel mit einer Mannschaft – also ziemlich sinnlos. In dieses Schicksal haben sich die Ausschuss-Mitglieder von den Freischaren-Commission nicht einfach kampflos ergeben. Die Verantwortlichen, Präsident Paul Steinmann, General Emil Stutz, Stabschef Fritz Iten und Säckelmeister André Brunner, haben zusammen mit vielen Freischaren-Begeisterten alles dafür getan, um ein Kadettencorp auf freiwilliger Basis auf die Beine zu stellen. Massgeblich beteiligt gewesen ist sicher auch der alt General Urs F. Meier, wo heute unter uns ist. Es ist ein rechtes Wagnis gewesen. Es hat dieser Zeit viele Armee-Gegner gegeben, wo das Manöver ein Dorn im Auge gewesen ist. Diese Kreise haben alles versucht, das Manöver zu verhindern. Zum Glück ohne Erfolg!

Auch finanziell ist es ein grosses Risiko gewesen, weil auf einmal alles hat müssen privat finanziert werden. Durch ein ausdauernde Hartnäckigkeit, durch unzählige Spenden und durch einen grosszügigen Beitrag von den Ortsbürger aus dem Kieswerk ist aber dann auch diese Meisterstück gelungen.

Und so lebt das Lenzburger Kadettenkorps alle zwei Jahre für kurze Zeit wieder auf. Seit dem Jugendfest 2000 können auch Mädchen mitmachen. Heute sind alle Mädchen und Buben ab der 5. Klasse bis Ende Oberstufe von der Regionalschule Lenzburg und Staufen im Kadettenkorps willkommen.

Das Freischaren-Manöver ist also eine 166 Jahre alte Tradition, wo alle Schichten und Gesinnungen, seien sie noch so gegensätzlich, vereinigt und wo bewirkt, dass für einmal alle am gleichen Strick ziehen. Und wie man an der Beteiligung sieht, hat das Manöver auch nach so langer Zeit nichts von seinem Glanz und seiner Faszination verloren.